Pflanzenheilkunde – zwischen Selbstfindung und Babybrei?

Mein Buch: Phytotherapie in der Frauenheilkunde (Thieme) wird auch bei einem großen online Buchhändler vertrieben.Der derzeitige Stellenwert der Pflanzenheilkunde lässt sich wohl kaum besser illustrieren als durch einen Blick in das derzeitige Ranking der Verkaufszahlen (siehe Foto, Screenshot vom 27. August 2021). Hier schiebt sich dieses Buch zwischen ein Werk zur Selbstfindung und Babybreirezepte.

Leider wird die Pflanzenmedizin häufig nur als Randgebiet betrachtet. Ganz falsch ist die Wahrnehmung als „sanfte Medizin“. Diese führt dazu, dass gerade hochanfällige Gruppen, wie Kinder oder Schwangere, nahezu kritiklos mit pflanzlichen Präparaten, auch zweifelhafter Herkunft, behandelt werden. Zwar weisen pflanzliche Arzneimittel eine große therapeutische Breite auf, aber sie sind nicht frei von Nebenwirkungen. Vor allem Wechselwirkungen müssen beachtet werden – nicht nur bei Johanniskrautpräparaten. Bei Langzeitanwendungen von pflanzlichen Medikamenten sind negative Einflüsse auf Nieren und Leber zu beobachten und sollten regelmäßig kontrolliert werden.

Dennoch finden sich pflanzliche Präparate, vor allem aus dem traditionellen Bereich, fast ausschließlich in der Selbstbehandlung wieder. Die Krankenkassen tragen ihren Anteil daran, indem diese hochwirksamen Arzneimittel mit dem Hinweis auf Unwirtschaftlichkeit (nicht Unwirksamkeit) aus eigener Tasche bezahlt werden müssen. Hier müssen sich die Krankenkassen den Vorwurf gefallen lassen, nicht zum Nutzen der Patient:innen zu handeln. Geprüfte pflanzliche Arzneimittel aus der Apotheke haben ihren Preis – im Internet ist es häufig billiger, schicker beworben, oft an der Grenze des rechtlich zulässigen. Für die Verbraucher:innen ist es oft nicht ersichtlich, worin der Unterschied besteht. Ein Nahrungsergänzungsmittel dient der Ernährung und nicht der Behandlung von Erkrankungen. Hierfür sind diese zu gering dosiert, schaden im besten Falle nicht. Andererseits sorgt die Abgrenzung derer, die ausschließlich auf „Natürlichkeit“ und traditionelle Behandlungsmethoden setzen, für eine unnötige Spaltung.

Erst kürzlich erhielt ich eine Interviewanfrage einer weitverbreiteten kostenlosen medizinischen Zeitschrift. Hierbei sollte es darum gehen, Fachmeinungen darzulegen, warum so wenig in die Entwicklung von pflanzlichen Therapien investiert würde (was in der Verallgemeinerung nicht stimmt). Alles war vorbereitet, als  mein beruflicher Hintergrund besprochen wurde, kam es zum Abbruch des Projektes.

Zurück zum Stellenwert der Phytotherapie: Die De Materia Medica (Dioscorides), die Standard-Enzyklopädie für die damalige traditionelle europäische Phytotherapie, monografierte in etwa 800 Kapiteln mehr als 500 verschiedene Pflanzen. Nicht alle davon sind heute zu empfehlen, da vor allem die Nebenwirkungen einer Langzeitbehandlung unterschätzt wurden, andere sich als unwirksam erwiesen. Diese Sammlung stand denen der chinesischen Medizin und anderen Kulturen in keiner Weise nach.

Eine der grundlegendsten Zäsuren erfuhr die hiesige Pflanzentherapie in der Neuzeit – gebeutelt durch die Pest erstarkten in Mitteleuropa Strömungen in der Kirche, welche Schuldige suchten. Die waren auch schnell gefunden – der Hexenhammer, eines der verheerendsten Bücher der Geschichte, bedeutete nicht nur das qualvolle Ende zahlreicher Menschen. Fanden sich im Mittelalter noch lustfördernde Rezepturen in Klosterbüchern, wurden Pflanzen nun moralisiert. In dem gesellschaftlichen Wahn der Hexenverfolgung, den Bestrebungen ganze Pflanzen auszurotten, ist viel Wissen verloren gegangen.

Im 19. Jahrhundert begann mit der Entwicklung der chemischen Industrie der Wandel zu chemisch-synthetischen Einzelwirkstoffen – ein Konzept, welches schwer mit den Wirkstoffgemischen in Pflanzen in Einklang zu bringen ist. Im Rahmen eines EU-Harmonisierungsprozesses 1999/83/EG und 2004/24/EG wurde für alle auf dem Markt befindlichen Medikamente eine Nachzulassungsbewertung gefordert. Derzeit hat nur ein Bruchteil der Pflanzen aus der Materia medica eine Zulassung als Arzneimittel, die europäischen HMPCs zählen 158 Arzneipflanzen. Wobei die Mehrzahl für Erkältungsbeschwerden und Magen-Darmprobleme registriert ist. Den Anwendungsgebieten, die auch während der Hexenverfolgung als unbedenklich galten.

Es darf also spekuliert werden, inwieweit der Widerhall der Geschichte hier noch einen großen Einfluss nimmt. Auf keinen Fall jedoch ein Grund, sich zwischen Selbstfindung und Babybrei auszuruhen.

Bildquelle: https://www.amazon.de/gp/bestsellers/books/340543031/ref=pd_zg_hrsr_books Abruf 27. August 2021/ 13:21